Ein anonymer Arbeiter: St. Petersburger Blutsonntag (22. Januar 1905)
Dienstag, den 22. Januar 2008Hier wehen sie, unsere Fahnen, wir sind eine schier unüberschaubare Zahl. 150.000 sagen die einen, 200.000 die anderen. Aber wer hat uns schon gezählt. Auf die Zahl aber kommt es auch nicht an. Worauf es ankommt, ist das, wofür wir stehen. Für ein neues Russland, ein anderes Russland. Endlich, endlich ist es soweit. Schaut nur, meine Genossen, schaut zur rechten und zur linken. Von allen Seiten, aus allen Straßen und Gassen, kommen sie, schließen sich uns an. Sie alle haben genug davon, ausgebeutet zu werden. Tag für Tag schinden wir uns an den Maschinen, in den Kohlegruben, auf den Feldern für die Industriellen, für die Grundbesitzer. Aber wofür? Damit wir am Ende doch wieder nur einen unseligen Krieg finanzieren? Einen verlieren wir doch gerade erst. Mit Erfolgen wollten sie von unseren Problemen ablenken, mit Erfolgen gegen das kaiserliche Japan. Aber was ist geschehen? Verloren haben wir diesen Krieg und das Volk, wir einfach Arbeiter, wir darben mehr als zuvor. Aber dem muss nun ein Ende gesetzt werden. Wir verlangen nicht viel. Aber wir müssen leben können, unter menschenwürdigen Bedingungen. Wir müssen frei unsere Meinung äußern können, ohne Angst vor Verfolgung durch die staatlichen Behörden, durch die Ochrana. Das Volk muss eine Stimme bekommen. Ohne uns gäbe es keine Industrie, keine Arbeit würde getan. Kein Kapital erwirtschaftet. Er hat schon Recht, auch wenn er ein Pope ist, aber er weiß, was die Arbeiter bewegt, dieser Georgi Gapon. Den Zaren wollen wir nicht absetzen. Seht Ihr, Genossen, da vorne führen sie sogar ein Bild des Zaren mit sich. „Gebt dem Kaiser was des Kaisers“, so sagt es immer Georgi. Aber wir sagen auch: „Gebt dem Arbeiter, was dem Arbeiter“. Gleich haben wir schon das Narwa-Tor erreicht, gleich sind wir da. Aber da stehen Soldaten! Warum? Wir wollen keinen Kampf, keinen Konflikt, keinen Hader. Nur unsere Bittschrift wollen wir überreichen.
Einige Stunden später:
Was ist geschehen? So friedlich war unser Zug! Und dann das. Plötzlich… Schüsse, Schreie, Blut. Zu meiner Rechten geht mein Kollege zu Boden. Getroffen von einer Kugel. Der halbe Schädel fehlt. Auch vor mir fällt einer. Überall Panik. Schreie, Menschen rennen, sie fliehen. Warum? Warum wird auf uns geschossen? Wer gab den Soldaten den Befehl uns zu töten? Nur wenige Schritte vor mir fiel diese junge Frau zu Boden. Kurz zuvor habe ich sie noch ein Bild des Zaren Nikolaus in die Höhe recken sehen. Nun liegt das Bild am Boden, gleich neben ihr. Menschen trampeln in ihrer wilden, heillosen Flucht über ihren toten Körper. Auch das Bild liegt zertreten im Schlamm. Rot gefärbt hat sich dieser Schlamm rings um uns, der noch vor wenigen Stunden weißer Schnee war, so unschuldig. Nun zeigt er den Tod. Wieder Schüsse. Ich muss auch hier weg, muss auch fliehen. Meine Kinder, meine Frau, sie brauchen mich. Kann nicht hier bleiben. Ich darf nicht sterben. Aber wir werden nie aufgeben. Nicht, bis wir unter menschenwürdigen Bedingungen leben dürfen. Nicht bevor wir eine Stimme bekommen. Diese Bilder. Ich werde sie nie aus meinem Kopf bekommen. Der Tod so vieler unschuldiger Menschen. Ja, wir kommen wieder. Aber das nächste Mal wird es anders sein. Im Frieden scheint es nicht zu gehen. Dann muss es der Kampf sein. Kampf bis wir Gerechtigkeit erlangen – oder den Tod.
Am 22. Januar 1905 zogen ca. 140.000 Menschen (andere Quellen sprechen teils von deutlich niedrigeren, teils von deutlich höheren Zahlen) in friedlicher Absicht in Richtung des Winterpalastes in St. Petersburg, um dem russischen Zaren Nikolaus II. eine Bittschrift zu überreichen. Ihr Ziel war es, bessere Arbeitsbedingungen für die Arbeiter zu erreichen. Eine Agrarreform sollte die Landbevölkerung entlasten und die Erträge gerechter zwischen den Großgrundbesitzern und den Landarbeiten verteilen. Eine konstitutionelle Monarchie nach britischem Vorbild sollte dem Volk zu einer Stimme in der Politik verhelfen. Zur Überreichung der Bittschrift an Nikolaus kam es aber gar nicht erst. Als der Demonstrationszug das Narwa-Tor erreichte eröffneten die dort befindlichen Soldaten ohne Vorwarnung das Feuer auf die Menge. Die Opferzahlen variieren stark, von wenig mehr als 100 bis zu über 1000. Eine abschließende Klärung ist wohl nicht mehr möglich. In der Folge des Petersburger Blutsonntags kam es zu Ausschreitungen und quasi-revolutionären Zuständen. Auch außenpolitisch stand Russland unter Druck. Der Krieg gegen Japan, der eigentlich begonnen worden war, weil man sich von schnellen Erfolgen eine Ablenkung von den Problemen im Inneren des russischen Zarenreiches erhoffte, wurde zum Desaster. Mit dem Oktobermanifest, in dem ein Zweikammernparlament eingeführt wurde, die Duma, und in dem sich weitere Zugeständnisse hinsichtlich der Forderungen der Aufständischen fanden, verschaffte sich die Monarchie eine Ruhepause. Die Bestimmungen des Oktobermanifestes blieben aber im Alltag ohne Folgen. Der Zar herrschte weiterhin nahezu unangefochten.
Ein Jahr nach dem Petersburger Blutsonntag, 1906, stellte sich sogar noch heraus, dass der Anführer der Demonstranten, der orthodoxe Priester Georgi Gapon, in Wirklichkeit ein Agent Provocateur des russischen Geheimdienstes, der Ochrana war. Also ein Staatsdiener, dessen Aufgabe es war, Handlungen zu provozieren, die in Unruhen und Ausschreitungen mündeten und dadurch wiederum der Ochrana Argumente zur Stärkung ihrer Position brachten. Er wurde am 11. April 1906 ermordet. Der Auftrag dazu kam von der sozialistisch-revolutionären Partei, die in ihm einen Verräter an der sozialistischen Revolutionsidee sah. Als ein Treppenwitz der Geschichte erscheint, dass sich später auch der, von der sozialistisch-revolutionären Partei mit der Planung des Mordes betraute, Jewno Asef, sogar einer der Gründer der Partei, seinerseits als Agent Provocateur entpuppte.